Was ist eigentlich ein Psychopath?
Bisweilen schlagen zwei Lebensgeschichten so hart aufeinander, dass Chaos
und Katastrophe schon vorprogrammiert sind. Zwischen den Beteiligten entsteht
fast explosionsartig eine so unwiderstehliche gegenseitige Anziehung, dass man
sie nicht erklären kann und dennoch weiß: Hier ist ein Stück Leben, das gelebt
werden muss, unabhängig von Dauer und Ende.
So passierte es auch Julischka, einer nicht ganz einfachen Bekannten von mir Ende
zwanzig, die schon länger Solo war, als sie auf Frank traf. Der war sehr
gewinnend in seinem Auftreten, sprachgewandt und anscheinend sehr selbstbewusst,
denn es gab nichts, was er nicht „im Griff“ zu haben vorgab. Alles
Eigenschaften, mit denen man eine verunsicherte Frauenseele beeindrucken kann.
Jedenfalls dauerte es weniger als drei Monate, bis sie zusammenzogen. Für
Julischka sollte es der Himmel werden, doch es wurde zur Hölle. Frank nämlich
veränderte sich schlagartig, und schon bald musste sie erkennen, dass er sie
von oben bis unten belogen hatte. Der Job als „Leiter Service“ existierte gar
nicht, vielmehr hielt Frank sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Sie reichten
hinten und vorne nicht, so dass mehr als einmal die Miete an Julischka hängen
blieb. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Frank sich bei jeder Tätigkeit schnell
langweilte und dann einen neuen Kick suchte, der allerdings genauso wenig
vorhielt.
Außerdem wurde er schon bei Nichtigkeiten so cholerisch,
dass er völlig ausrastete und Julischkas panische Angst vor ihm zu genießen
schien: Ohnehin war ihr bereits klargeworden, dass er zu mehr als oberflächlichen
Gefühlen nicht imstande war. Und so musste sie sich auch eingestehen, dass sein
anfängliches liebevolles Werben nichts anderes gewesen war als die Strategie
eines trickreichen Blenders, der in Wirklichkeit nur die Kontrolle über sie
suchte, um sich wie ein Baumschwamm auf sie zu setzen.
Manchmal schüttelt man ja nur den Kopf. Als Julischka dann auch noch von ihm
schwanger war, fragte ich mich, ob er sie schon so weit eingeschüchtert hatte,
dass sie jede Vernunft aufgegeben hatte. – Viel später würde sie mir sagen,
dass er sie tatsächlich zu ungeschütztem Verkehr gezwungen hatte, und dass auch
der Sex schon seit geraumer Zeit nicht mehr freiwillig erfolgte, sondern nur
noch das Resultat seines unerbittlichen Drängens war: Er nahm sich, was ihm in
seiner Egozentrik „zustand“. Doch dieses eine Mal behauptete sich Julischka und
bestand darauf, ihr Kind zu bekommen, wovon Frank allerdings gar nichts hielt. Wenige
Tage später verlor er bei einem Computerspiel, an dem er den ganzen Nachmittag
gesessen hatte, und er rastete darüber so aus, dass er speichelnd vor Wut ein faustgroßes
Loch in die Zimmerwand hackte. Dies war der Punkt, an dem Julischka sich
entschloss, schnellstmöglich auszuziehen, wollte sie ihr Kind und sich selbst
retten.
Sie fand eine Bleibe und schlich sich während Franks Abwesenheit aus dem Haus:
zwei Familienmitglieder halfen ihr, ihre Sachen abzutransportieren. Und Julischka
verspürte eine riesige Erleichterung, die zeigte, unter welch bestialischem
Druck sie all die Monate gestanden hatte. Sie sollte nicht lange anhalten, denn
nach wenigen Tagen schon klingelte Frank an ihrer Tür und beschimpfte sie, von jetzt
an alle paar Tage. Den Stalking-Paragrafen gab es damals noch nicht im StGB, so
dass alle Versuche, Hilfe von Polizei und Behörden zu erlangen, vergebens
waren. Schließlich bekam Julischka ihr Baby. Als sie mit dem Kleinen zuhause
war, klingelte Frank wieder, doch Julischka öffnete ihm nicht. Darauf hin
begann er brüllend gegen die Wohnungstür zu treten und schrie: „Ich bring dich
um, ich bring dich um! Und dein Scheißkind bring ich auch um!“
Julischka zitterte vor Angst. Umso mehr als Frank jetzt täglich zwei bis
viermal mit dröhnendem Autoradio an ihrer Erdgeschosswohnung vorbei fuhr und
sie dazu feist angrinste. Trotz einer inzwischen erwirkten
Gewaltschutz-Verfügung ging er ihr hinterher, wenn sie in der Nähe Besorgungen
machte. Um dem Fass die Krone aufzusetzen, machte er schließlich auch noch
seine „Ansprüche“ geltend, das Kind für sich zu haben. Da deutsche Behörden
viel mit Vorschriften arbeiten, aber nur selten mit Hirn, drohten sie jetzt
Julischka (!) schwere Strafen an, sollte sie dem amtlichen Erlass nicht folgen.
Sie war völlig am Ende, als sie mich anrief.
Ich überlegte 2 Tage, dann gab ich den Fall an die SPIEGEL-Redaktion. Eine
Redakteurin besuchte sie und brachte hinterher eine große Geschichte über ihr
Drama: Es war der meistgeklickte Artikel des Tages. Nun plötzlich stiegen
andere Medien ein, und Julischka hatte mehrere Treffen mit Landesministern, denen
sie politische Vorschläge unterbreitete, um Stalkingopfer besser zu schützen. So
erschien sie reihenweise in Medien, so dass Frank, der eine Reihe höchst
unangenehmer Anrufe von Redaktionen erhielt, plötzlich sehr vorsichtig wurde.
Aufgrund seines Verhaltens hatte er inzwischen mehrere Straftatbestände
verwirkt und besaß schon ein respektables Vorstrafenregister, von dem Julischka
nie gewusst hatte. Man verurteilte ihn zu einer Haftstrafe, die er auch absaß.
Zu Recht wird man diesen seltsamen Herrn für einen kriminellen Psychopathen
halten. Seltener allerdings fragt man sich, was genau das ist. Weiter hilft uns
hier die Forschung von Robert D. Hare, einem kanadischen Kriminalpsychologen,
der eine inzwischen von ihm überarbeitete „Psychopathy Checklist (PCL-R)“
ausgearbeitet hat, die in der Forensik eine bespiellose Karriere hinlegte. Sie
finden sie in der Abbildung unten. (Aus einem Vortrag von H.E. Müller,
Universität Regensburg). Was auffällt: Nirgends gibt es echte Verbindlichkeit /
Verbundenheit bei solchen Menschen. Alles ist oberflächlich und dient nur einem
Ego, das niemals zu stillen ist und unfähig ist, längerfristig zu denken.
Fragen Sie sich, ob Ihr Chef ein Psychopath ist? Ihre Ehefrau? Ein charmanter Geschäftspartner,
aus dem sie nie ganz schlau werden? Eine Nachbarin, die ständig schwankt
zwischen (falscher) Herzlichkeit und Kälte? Nutzen sie den PCL-R, sie werden
Klarheit gewinnen: 0 für eine nicht vorliegende Eigenschaft; 1 für eine
mittlere Stärke; 2 für eine starke Ausprägung. Addieren Sie die Werte! Ab 25
wird´s bedenklich, ab 30 gefährlich.
Und dann werden Sie verstehen, warum Hare´s Tabelle sich fast schlagartig
weltweit verbreitete.