Naturvölker und Übersinnliches.

Sulo Alakorva, ein Saame, war in Finnland eine lebende Legende. Er betrieb die letzte „Poropostinlinja“, also eine Rentierpost, von Vuotso nach Tankavaara, indem er zwei seiner Rentiere hintereinander anschirrte. Dann hing er seinen kanuförmigen schmalen Schlitten daran, isolierte ihn mit Rentierfellen gegen die Bodenkälte und jagte mit seiner Post los wie der Teufel. Eine Saamenfrau, die ich interviewt hatte, war die Tochter des nicht weniger legendären Johannes Lauri, der dort oben einen wichtigen Handwerkszweig begründet hatte, indem er aus abgeworfenen Rentiergeweihen Artikel wie Korkenzieher, Schlüsselanhänger, Flaschenöffner, etc. herstellte und den Leuten damit Arbeit verschaffte. Sie hatte mir Sulo empfohlen und mich gleich telefonisch bei ihm angekündigt.Als ich drei Tage später bei ihm eintraf, trat mir ein vor Kraft förmlich platzendes Mannsbild von sechzig Jahren entgegen, dem man ansah, dass es mit der umgebenden Natur im besten Wortsinne verwachsen war. Sulo nutzte seinen „Suopunkki“, ein aus Streifen von Rentierleder gedrehtes und mit Rentierfett geschmeidig gemachtes Lasso, um sich zwei der Tiere aus seiner Herde zu holen. Er schirrte er sie an und hing einen extra Schlitten für mich hinter den seinen. Die Fahrt allerdings, die anschließend losbrach, habe ich bis heute nicht vergessen: Die Rentiere jagten mit einem solchen Affenzahn durch die „tunturi“ – die fälschlich als „Tundra“ bezeichnete Taigalandschaft – , dass mir Angst und bange wurde. Man muss sich vorstellen, dass man subjektiv mit Jet-Geschwindigkeit und mit vielleicht 20 cm Bodenabstand auf dem Rücken liegend durch hüfthohen Tiefschnee jagt, links und rechts die frostklirrenden Kiefern und Birken, die einem immer wieder am Körper vorbeistreichen. Zu beiden Seiten die nur halbhohen Schlittenwände, so dass man ständig meint, herauszufallen. – Rentiere als die Ferraris der Taiga zu bezeichnen, ist durchaus angemessen.Nach etwa zwanzig Minuten dieses Teufelsritts, nach denen mir trotz Temperaturen von -20°C der Schweiß auf der Stirn stand, trafen wir wieder zuhause ein, und er entließ die Tiere in ihr Rentier-Gatter. Es sind sanfte und scheue Wesen, distanziert und hochsensibel, die sich bei jedem Annäherungsversuch eines Fremden indigniert zurückziehen. Mit Ausnahme ihrer Eigentümer natürlich, denen sie mit weichem Zutrauen begegnen.Anschließend gab es Kaffee, bei dem eine junge Lehrerin namens Marketta Valkeanpää mir half, indem sie übersetzte. Nach einiger Zeit fragte ich die beiden nach den übersinnlichen Praktiken der Saamen und nach ihrem zweiten Gesicht. Sulo blickte mich erstaunt an: „In 30 Jahren hat mich noch kein einziger Tourist danach gefragt!“ Dann begann er zu erzählen und zu erzählen. Marketta war so fasziniert, dass sie ihre Übersetzungen immer weniger wurden und schließlich ganz aufhörten. „It´s a pity you don´t understand!“´, sagte sie mir mit leichten Augen. Davon hab ich jetzt was, dachte ich mir. Dennoch bekam ich mit, dass der alte Akmeeli sich regelmäßig von seiner Frau für mehrere Monate begraben ließ und sich dann von ihr gesund und bester Dinge wieder ausgraben ließ. Irgendwann aber vergaß die verehrte Gattin, das zu tun, und als es ihr endlich nach langer Zeit wieder einfiel, begann sie sofort, ihn auszugraben: Akmeeli aber kam nur noch als Skelett aus dem Grab und machte sie unheimlich zur Sau. – Jede Landschaft hat eben ihre spezifische Art von Eheproblemen.Kaisu, Sulos Frau, erzählte mir dann, bevor es Telefon gab, sei es bei den Saamen üblich gewesen, das Herannahen von Besuchern durch die Wildnis schon Stunden vorher zu spüren. Trafen sie dann auf ihren Schneeschuhen ein, war der Kaffeetisch bereits gedeckt, und zwar für die richtige Anzahl von Personen. Hatte einer der Besucher eine besondere Vorliebe, war ich die bei den Gedecken berücksichtigt. Dass die Saamen aber auch ein sparsames Volk waren, zeigte sich an folgender Geschichte: Wenn Kaisu mit ihrer Schwester im 450 km entfernten Kilpisjärvi sprechen wollte, dann versetzte sie sich einfach mental dorthin und besah sich alles ganz genau. „Danach hab ich sie dann angerufen und mir von ihr bestätigen lassen, dass alles so war, wie ich es gesehen hatte. – Auf die Weise hab ich enorme Telefongebühren gespart.“Irgendwann klingelte mir der Kopf von soviel wundersamen Erzählungen und ich brach auf, um zurückzukehren nach Saariselkä. Die Bilder und die Geschichten nahm ich für immer mit.
Wenige Monate nach meinem Besuch verstarb Sulo völlig unerwartet.
Das Bild zeigt ihn und sein wildes Leben in der Taiga.

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