Darf man einen Mann in einer Führungsposition als zart bezeichnen? Oder verwendet man besser ein paar Euphemismen, um den Manager-Mythos nicht zu beschädigen? Der vor mir sitzt jedenfalls, sieht durchsichtig aus, und ich frage mich, wann er mir vom Stuhl fällt. In seiner Verantwortungsposition in einem namhaften Werftbetrieb hat er sich, gerade mal Anfang fünfzig, aufgearbeitet. Er wirkt wund, nach innen gekehrt wie ein krankgeschossenes Tier, das sich ins Unterholz verzieht und hofft, dass niemand vorbeikommt, der es beißt.
Burn-Out ist ein toter Begriff. Da brennt nichts mehr, der Mann ist fertig. Das Gefährliche ist, wenn die Betroffenen dann in einen tranceartigen Trott geraten: Sie marschieren und marschieren und funktionieren wie benommen. Auch zuhause kommen sie nicht zur Ruhe, und der Nachtschlaf ist ein nervöses Hetzen durch Wachträume, bis morgens – kurz vor dem Aufwachen – der Absturz in eine erschöpfte Tiefschlafphase erfolgt, die vom Wecker jäh zerrissen, – pardon: zerfetzt – wird. Dann stehen sie auf und roboten weiter. Ich schicke ihn zuallererst einmal zum Arzt, das sieht mir alles zu gefährlich aus.
Burn-Out-Klienten haben ein ganz brutales Problem. Es heißt: Grenzziehung.
Wo ein Mensch mit einem intakten psychischen Apparat ganz selbstverständlich nein sagt, sind sie paralysiert. Sie machen praktisch alles mit und vergessen dabei, sich selbst zu schützen: Sie sind für sich selbst nicht mehr wichtig. Es geht nur noch darum, Wünsche und Erwartungen der Anderen zu erfüllen. Usque ad exitum. – Wer sich etwas damit auskennt, der weiß, dass hier viel kindliche Verzweiflung im Spiel ist, natürlich prächtig kaschiert hinter Managerattitüde. Es ändert nur nichts: Ein Kind schreit, es will ganz, ganz dringend in den Arm genommen werden. Für Kinder gibt es nichts Wichtigeres, und wenn man es ihnen verwehrt, schreien sie weiter. Manche ein ganzes Leben lang. Da sie sich dann aber bereits in einem Erwachsenenkörper befinden, kann das für den Erwachsenen zur Hölle werden.
Mein Klient jedenfalls hat Teile seiner Handlungsfähigkeit verloren. Egal, was man ihm auf den Schreibtisch knallt, er macht es. Negation und Selbstschutz sind abgeschaltet. Geht er durch die Produktion und stößt auf ein technisches Problem, dann delegiert er nicht, sondern sagt: „Ach lass nur, ich mach es gleich selbst.“ Dann klettert er aufs Gerüst. Sein Wirken hat keinen Vektor mehr, er hastet hin und her zwischen Einzelaufgaben, in denen er sich hoffnungslos verzettelt. Es fällt auf im Betrieb. Als ein Vorgesetzter ihn fragt, wie man ihm helfen kann, antwortet er: „Ich hab längst aufgegeben.“ – So gibt man den vollständigen Kontrollverlust über das eigene Leben bekannt. Es ist der Vorgesetzte, der mich anruft.
Hinterfragt man dieses intensiv selbstschädigende Verhaltensmuster, so kommen intensive Wünsche zum Vorschein, die vom Klienten in totalitärer Weise Besitz ergriffen haben. Nur vordergründig heißt es: „Ich will mich nützlich machen und meine Pflicht erfüllen.“ Dahinter jedoch stehen massive Zweifel im Hinblick auf den eigenen Selbstwert: „Ich muss mich nützlich machen und reibungslos funktionieren, denn sonst bekomme ich nicht die Zuwendung und die Anerkennung, die ich mir wünsche.“ – Wohlgemerkt: der Mensch läuft nicht mit solchen Gedanken herum, aber sie steuern ihn aus dem Unbewussten. Sitzungen, in denen genau diese Automatismen zu Bewusstsein kommen, können für beide Seiten sehr bewegend und ergreifend sein. Sie lassen etwas spürbar werden von einer kreatürlichen Not, die keinem von uns fremd ist, der die Fährnisse des Lebens schon erfahren hat. Aber es ist nun mal ein Unterschied zwischen dem Wunsch sich nützlich zu machen und dem selbstzerstörerischen Zwang sich nützlich zu machen. So ein Mensch verbrennt sich selbst, ohne von außen neue Energie aufzunehmen.
Nun ja: Jeder Erwachsene braucht Zuwendung, Wertschätzung und Anerkennung. Würde mir aber jemand eine selbstschädigende Leistung abverlangen, wäre meine Reaktion eindeutig: „Ja, i spinn doch net!“ – Was also treibt den Burn-Outer? Erwachsene Überlegungen werden es kaum sein, denn wenn ich ein Karriereziel verfolge, an dessen Ende ich mit fünfundvierzig drei Bypässe habe, eine lausige Frührente und meine geplatzte Hausfinanzierung, dann muss noch etwas Anderes im Spiel sein. Irgendetwas ganz Verborgenes mit ganz viel Macht. Sowas kommt eigentlich immer aus den Jahren, wo es noch ganz wichtig war, von Mami und Papi fest in den Arm genommen zu werden.
Also nicht weiter verwunderlich, dass in den Gesprächen mit meinem Klienten recht bald die inzwischen greise Mutter auftauchte, und dies mit deutlich negativer Konnotation. „Sie geht mir eigentlich nur auf die Nerven. Die Gespräche mit ihr sind belangloses Blah-blah, und wenn sie alle zwei Wochen anruft, erzählt sie mir, dass der Nachbar sein Garagentor gestrichen hat.“ – Übersetzt heißt das: Ich vermisse so sehr die Nähe zu meiner Mutter. Da wird man als Coach hellhörig: Eine Führungskraft wäre gerne bei Mama auf´m Schoß.
Behutsames Hinterfragen offenbart sukzessive das Elend einer Kindheit in einem Managerhaushalt: Der Vater, ebenfalls Führungsposition, ständig unterwegs und als Ansprechpartner ein Ausfall. Er stirbt bei einem Autounfall in Dänemark und hinterlässt Frau und vier Kinder: drei Töchter in den Teens und unseren achtjährigen Manager, einen Nachzügler. Der Kleine fühlt sich hoffnungslos vernachlässigt. Die Mutter behandelt ihn kühl und abweisend, signalisiert ihm fortwährend, wie unwichtig und – ja! – lästig er für sie ist. Ein einziges Mal streicht sie ihm mehr abwesend als liebevoll über die Haare, als er etwas für sie erledigt hat. „Ich hab gebettelt und gebettelt und gebettelt“, sagt er voller Bitterkeit, „und sie hat mich immer nur übersehen. Jetzt kann sie mir gestohlen bleiben.“ Dann schaut er mich an mit einem Blick, den ich nie wieder vergessen werde. Und dann beginnt er bitterlich zu schluchzen. Und ich sitze da und frage mich, ob ich jetzt ein erwachsenes Mannsbild einfach in den Arm nehmen soll.
In den weiteren Sitzungen kommen all die seelischen Defizite zur Sprache, die der Kleine erfahren musste. Und auch die prägende Kraft des Sich-Nützlich-Machens: Mama hat mich gestreichelt (man wird ja bescheiden), als ich etwas für sie getan habe. Wenn ich noch viel mehr für sie tue, dann streichelt sie mich bestimmt noch viel mehr. Und so beginnt er, kleine Dienste zu übernehmen. Erst auf Zuruf, später sogar mit wachem Blick vorauseilend. Mehr von Hoffnung getragen als von Erfolg, denn Mama bleibt kühl. Aber immerhin: Dienen macht nützlich, und dann brauche ich mich auch nicht ganz so wertlos zu fühlen. – In diesem oder in ähnlichen Erlebnissen liegt ganz oft die Wurzel für eine gewisse, stets auf Entwertung des Gegenübers abzielende, Präpotenz in manchen Managerkreisen. Sei es die Mama, sei es der Papa, oder auch mal beide. Jedenfalls, bei meinem Klienten wandert dieses Muster als fester Programmsatz ins Unbewusste.
„Und wenn man mit ihr reden will, weicht sie immer nur aus.“, sagt er, „Die ist wie ein Stück Seife.“ Dann scheint er einen Entschluss zu fassen: „Aber das nächste Mal, wenn sie mich besucht, stell ich sie. Und dann gnade ihr Gott. Und wenn sie dann wieder ausweicht, werf´ ich sie raus!“
„Mhm“, sage ich, „und dann sind Sie genau da wieder angekommen, wo Sie bisher schon immer waren.“
Erstaunter, verunsicherter Blick. „Was soll ich ihr denn sagen?“
„Mama, ich möchte, dass Du meine Gefühle wahrnimmst.“ Ein sehr, sehr nachdenklicher Abschied.
Die Gesamtverfassung des Klienten hat sich in den letzten Sitzungen deutlich gebessert. Die Einsicht in seine intrapsychischen Verflechtungen hat ihn wehrhafter werden lassen gegen die eigenen Unterwerfungsimpulse: Zwar hat er sie nach wie vor noch, doch erkennt er sie jetzt als solche und steuert auf Bewusstseinsebene dagegen. Da sie nicht mehr aus dem Unbewussten heraus agieren können, beginnen sie ihre Wirksamkeit zu verlieren. Und der Klient beginnt, ihnen etwas mindestens ebenso Mächtiges entgegenzusetzen: Seine langsam aufkommende Wertschätzung für sich selbst. Als Person, unabhängig vom Grad seiner Nutzbarkeit. Einfach als So-wie-ich-bin. Damit beginnt er, deutlich gesünder auszusehen, bisweilen ist er sogar richtig heiter. Denn sukzessive gewinnt er die Kontrolle über seinen Job zurück. Und das fällt auf und hat Rückwirkungen.
Aber noch etwas passiert: der anfangs flammende Hass gegen die Mutter weicht dem Wunsch, sich mit ihr ernsthaft auszutauschen. Der Klient spricht viel darüber, denn nun kann er zulassen, worauf es ihm wirklich ankommt: gegenseitige ehrliche Zuneigung, die schon aus sich heraus den Entwerteten wieder aufwertet. Dennoch: Heute, als erwachsener Mann, will er wenigstens verstehen, warum Mama so gemein war. Und Mama hat ihren Besuch angekündigt. Diesmal bereitet er keinen Überfall vor, sondern eine behutsame Annäherung.
Urlaubsbedingt vergehen einige Wochen, bis wir uns wiedersehen. Ich treffe auf eine glücklich strahlende Führungskraft, es ist richtig ansteckend. „Oh Mann, wir haben beide geheult wie die Schlosshunde!“, sagt er begeistert. „Soso“, sage ich und fühle mich irgendwie nicht ganz auf dem Laufenden. – Mein Klient hat sich verhalten wie ein erwachsener Sohn, und nicht wie ein wütendes Kind. Er hat seiner Mutter gesagt, wie wichtig sie für ihn war und ist, und wie schwer es ihm fiel, ihr völliges Desinteresse an ihm zu verstehen. Ihre Antwort allerdings zog ihm die Füße weg.
Vor ihm saß eine Frau, die von ihrer Schuld fast erdrückt wurde, und die sich selbst ihr Versagen niemals verziehen hatte. Eine Mutter, die schon zu Lebzeiten des ständig abwesenden Vaters mit vier Kindern hoffnungslos überfordert gewesen war, und die sich unter dem Druck der Situation einer alleinerziehenden Witwe in eine Erschöpfungsdepression manövriert hatte. Sie hatte auf jedes private Glück verzichtet (also ein für den Klienten vorgelebtes Schema), doch hatte bei aller Selbstaufopferung ihre Kraft für den Jüngsten nicht mehr ausgereicht. Ihre Scham über das eigene Versagen hatte ihr jede Kommunikation mit ihm unmöglich gemacht. Gequält von Schuld und Selbstvorwürfen, hatte sie sich geschworen, ihm gegenüber nie mehr etwas falsch zu machen. Doch, wie bei Vielen ihrer Generation, hatte sie emotionale Kommunikation niemals erlernt. So flüchtete sie sich in hilflose Allgemeinplätze, nicht weniger verzweifelt als er, die Liebe zum eigenen Kind nicht leben zu können und „draußen“ zu bleiben. Es muss ein sehr dramatisches Gespräch gewesen sein. Am Ende verlor die Mutter ihre Schuld und der Sohn seinen Hass, und sie lagen sich in den Armen. Tatsächlich sind sie seither unzertrennlich.
Was sich für Manche vielleicht wie Courts-Mahler liest, ist die Ausnahmesituation, die in einzelnen Fällen lebenslang befreit. Und man sollte nicht dem Irrtum erliegen, dass sich ein Coaching von vornherein „auf ein bestimmtes Problem“ beschränken lässt. Man weiß nie, was auftaucht, bis es aufgetaucht ist.
Meinem Klienten jedenfalls geht es hervorragend. Alle sechs-acht Monate meldet er sich mit einer quietschvergnügten Mail.
Zu allen Beiträgen: Die grosse Kunst jemandem schreibend ‚Curry‘ zu erklären.